Waldeck – Bombardierung der Reiherbachbrücke zwischen Sachsenhausen, Netze und Selbach

Ein Bericht von Hans Joachim Adler

Erlebnisse eines Netzer Jungen

Kurt Ochse, Jahrgang 1931, hat von den Geschehnissen im Krieg einiges miterlebt. Ob nun die Bombardierung der Edertalsperre oder den Luftkrieg um Netze, alles hat sich in sein Gedächtnis tief eingeprägt.

Ochse verbrachte die ersten Jahre seines Lebens im elterlichen Haus in der Edertalstraße, wo er auch heute noch mit 75 Jahren lebt.

Der Vater, Eisenbahnbeamter, hat den weiteren Lebensweg stark mitgeprägt. So zog es den Jungen nach der Schulzeit auch zur späteren Bundesbahn. Die dramatischste Zeit war aber die von 1943 – 1946.

Eine Besichtigung mit einem Lehrer an der Sperre ist ihm in bleibender Erinnerung geblieben. Die Klasse hatte schon einen gutes Stück Weg zurückgelegt als der Lehrer bemerkte, dass er sein Parteiabzeichen vergessen hatte. “Ohne das Abzeichen kommen wir nicht an die Flakgeschütze heran!”, so argumentierte der Pädagoge. Also ging es zurück und das Abzeichen wurde geholt. Der Besuch bei den Luftwaffensoldaten an der Talsperre verlief danach auch problemlos, alle Schüler waren begeistert, hatten sie doch nun einmal die schweren Kanonen von nahem gesehen, wo sie sonst nur die Sperrballone hinter Waldeck am Himmel sehen konnten.

Wenige Tage vor der Zerstörung der Talsperre wurde die Flak abgezogen, erinnert sich Ochse. Von Verrat war nach der Zerstörung der Talsperre die Rede, aber hätte es etwas genützt wenn die Geschütze vor Ort gewesen wären? An der Möhnetalsperre waren Flakgeschütze vorhanden, die Vernichtung der Sperre konnten auch durch diese nicht aufgehalten werden. Beim Wiederaufbau der Edertalsperre wurden daher verstärkt Sicherungsmaßnahmen getroffen, Torpedonetze‚ Grundminen, sowie eine verstärkte Flakbesatzung sollten die Sperrmauer sichern.

Im Herbst 1944 barg Ochse mit einem Freund einen amerikanischen Zusatztank, ihn hatten sie während eines Luftgefechtes zu Boden fallen sehen, noch heute kann er sich an die Geräusche erinnern die von dem fallenden Tank verursacht wurden. Mehrere Liter Flugbenzin konnten die beiden aus dem Behältnis abfüllen, Benzin war damals absolute Mangelware. Beide waren bei ihrer Tätigkeit beobachtet worden, was zur Folge hatte, dass der Blockwart am Abend bei der Familie Ochse auftauchte und die Herausgabe des Benzins forderte. Nach der Abgabe wurde noch eine Warnung ausgesprochen und das war es auch schon gewesen.

Fast jede Nacht waren Bomber unterwegs, die meist in Richtung Kassel flogen. Am Palmsonntag, den 18. März 1945, fand in der Kirche von Netze der Einsegnungsgottesdienst für die Konfirmanden des Jahrgangs 193l statt, darunter auch Kurt Ochse. Seit dem 22 Feb. 45 hatten es die Jagdbomber der 9 US Luftflotte auf die einen Kilometer von Netze entfernten Reiherbachbrücke abgesehen. Mehrere Angriffe mit Bomben durch die „Lightnings“ hatten keinen Erfolg erzielt, noch immer war das Viadukt von den Zügen befahrbar.

An diesem Sonntagmorgen, der Gottesdienst war fast zu Ende, wurde Vollalarm gegeben. Pfarrer Bregenbranger, ein Mensch, von dem man auch heute noch mit Hochachtung spricht, ließ die Kirche sofort räumen. Selbst im ersten Weltkrieg verschüttet, wusste er um die Gefährlichkeit einer Bombardierung. Unter den Bäumen Deckung suchend, sah man die mittelschweren „Marauder“ Bomber ihre tödliche Last über dem Reiherbachtal abwerfen. Diesmal wurde die Brücke zerstört und die Angriffe hatten ein Ende.

Nach dem Bombenangriff versammelten sich die Konfirmanden zu einem Gruppenfoto was bis heute erhalten geblieben ist.

Konfirmantenfoto Kurzt Ochse
Konfirmantenfoto Kurzt Ochse

Nur bei wenigen Einsegnungen wurde damals ein Foto erstellt, meist waren keine Filme mehr zu bekommen, oder es fehlte am Fotoapparat. Die Konfirmanden dieses Jahrgangs hatten hier großes Glück gehabt. In der Nacht vom 20. auf den 21. März 1945 hatte es gegen 2 Uhr Luftalarm gegeben, über eine Stunde lang waren Motorengeräusche am Himmel zu hören. Normalerweise musste die Bevölkerung in die Luftschutzkeller, Ochse aber stand im Garten beim elterlichen Haus und schaute in den nachtschwarzen Himmel. Es muss so etwa um 3 Uhr gewesen sein als am Himmel ein Licht aufflammte, von einem Flugzeug war eine Magnesiumbombe gezündet worden. Ob es sich um einen Zielmarkierungsbombe gehandelt hat, oder ob eine englische „Mosquito“ auf Nachtjagd war, konnte nicht mehr geklärt werden.

Fast eine viertel Stunde brauchte der Leuchtkörper, der so hell strahlte das man in Waldeck die Häuser gut erkennen konnte, bis er am Boden ankam. Nur fünfzig Meter vom Haus verlosch die Magnesiumbombe. Ein Ballon mit einem kleinen Fallschirm, der rötlich schimmerte und einen Durchmesser von anderthalb Meter aufwies, hatte die Bombe so langsam sinken lassen. Während der Leuchtkörper fast erloschen war ereignete sich am Himmel, es muss in etwa 5000 Meter Höhe passiert sein, ein weiteres dramatisches Geschehnis. Kurzes Bellen von Bordkanonen und am Himmel stand ein Flammenball, der sich rasch nach unten neigte. Teile montierten von einem Flugzeug ab, so auch ein Stück Tragfläche, was sich im Nachbarhaus der Familie Pilger ins Dach bohrte.

Ein schweres brennendes Flugzeug stürzte im 60 Gradwinkel der Erde entgegen. 800 Meter in nördlicher Richtung zerschellte alles in einem riesigen Feuerball, aus dem nach dem Aufprall am Boden noch einmal eine lange Stichflamme heraus schoss. Eine halbe Stunde lang waren danach die Explosionen der Bordmunition zu hören. Wieder war durch den Brand alles in hellem Licht getaucht, langsam aber verlosch das Feuer und es wurde ruhig um Netze.

Beim ersten Sonnenlicht zog es. Ochse mit vielen anderen Netzer Bürger hinaus um nach den Überresten des Flugzeuges zu sehen, dieses lag zerrissen ohne Tragflächen in zwei Teilen auf einem Feld. Ein paar hundert Meter weiter ragte ein Stück Tragfläche aus dem Acker; ein Motor hatte sich in den Boden gebohrt und hielt nun die daran befestigte Fläche fest . Vier tote Flieger lagen um die Bugsektion, schwer verbrannt, in einem Umkreis von nur fünf Metern. Eine Motorabdeckung hatte sich in der Nacht in den Gartenzaun der Familie Ochse gebohrt, wo man sie am morgen entdeckte. Die Rumpfteile wurden nach dem Krieg an den Wegrand gezogen, wo sie noch, einige Jahre gelegen haben.

Mit dem Einmarsch der Amerikaner veränderte sich der tägliche Ablauf im Dorf. Viele Bewohner mussten ihre Häuser räumen, so auch Familie Ochse, aber ihnen wurde ein Raum belassen, in dem sie wohnen bleiben durften. Vor dem Haus wurden auf den Weiden die Zäune abgebaut und schon Stunden später landeten dort sechs Verbindungsflugzeuge vom Typ L19, auch als Grashüpfer bezeichnet Aus einer der Maschinen wurde auch die zerstörte Reiherbachbrücke fotografiert.

Zerstörte Reiherbachbrücke
Im zweiten Weltkrieg wurde die Reiherbachbrücke zwischen Sachsenhausen, Netze und Waldeck zerstört

Die schlechte Bildqualität resultierte durch die Plexiglasscheibe, die wohl nicht ganz sauber gewesen ist. Schon nach wenigen Wochen konnte Familie Ochse ihre Wohnung wieder nutzen, wie in anderen Fällen hatten sich die Amerikaner vorbildlich benommen, Es war nichts gestohlen oder zerstört worden. Noch ein Jahr hat Frau Ochse für die Amerikaner die Wäsche gewaschen, was damals eine willkommene Einnahmequelle bedeutete.